„Wahrhaft revolutionär wirkt das geheime Signal des Kommenden, das aus der kindlichen Geste spricht.“
Walter Benjamin
– Eine Photographie. 1927 Berlin. Ein großer Raum mit Spiegeln. Eine Villa. Eine Zusammenkunft. Eine Familie. Freunde. 46 Leute. Gut gekleidet. Ruinen einer Festlichkeit, angebrochener Champagner, Reste eines reichen Mahls auf Silbertellern, weißes Tischtuch. Hochzeit. Der Blitz erhellt, fixiert, begrenzt den Augenblick. Von den 7 Kindern in der ersten Reihe am Boden ein Mädchen, 8 Jahre, eine unschuldige Geste. Sie hält sich die Hand vor die Augen: „Damit der Blitz mich nicht blendet“ und „Das waren die glücklichen Zeiten“ wird sie 60 Jahre später in Buffalo, New York bezeugen. Als Ihre Enkeltochter am 7. Dezember 2004 in Paris das Photo einem Mitbewohner beschreibt, wird sie hinzufügen „She was the only one to survive. In a way, we could have been neighbors“. Es war Chanukah, ihr sechsundzwanzigstes, sein erstes. –
____________________________
Das Chanukah Fest ist nicht allein ein entscheidender Konvergenzpunkt in unserer Geschichte, sondern dient gleichzeitig als Inspiration für die Strukturierung und Orientierung unseres Arbeitsprozesses. Traditionell wird an jedem Folgeabend des Festes ein weiteres Licht der Chanukah Menora hinzugefügt bis alle acht Kerzen am letzten Abend gemeinsam brennen, zusammen mit der Shamash, der Helferkerze zum Entzünden. Neben dem spirituellen Symbolismus jenes wundersamen Öls, welches zur Wiedereinweihung des Tempels acht Tage statt einem brannte, erinnert jedes hinzugefügte Licht die Feiernden an Widerstand und Resilienz im Angesicht der Unterdrückung. Die Kerzen stehen sinnbildlich dafür, das Licht der Erkenntnis und Hoffnung zu entfachen, welches die Dunkelheit der Unkenntnis verdrängt, so dass Wahrheit scheinen kann. Dieses Ritual wahrnehmend bedeutet für unsere künstlerische Auseinandersetzung, dass das Chanukah-Projekt ein iterativer künstlerischer Prozess ist, in welchem jede Präsentation auf ihrer vorherigen aufbaut und sich dabei weiter entfaltet. Jede dieser Entfaltungen beabsichtigt demnach unser Thema weiter zu erhellen durch einen Prozess kontinuierlicher Entwicklung und Verfeinerung. Dabei läuft die Suche nach der angemessenen theatralischen Form hinsichtlich des Stoffes parallel zu einer tiefen kritischen Ausgrabung in der Komplexität, die den zugrundeliegenden Themen innewohnt.
Mit dem besagten Familienphoto als Ausgangspunkt, erforscht das Gesamtprojekt – welches neun Iterationen umfasst – über mehrere Generationen und Stränge die Beschaffenheit eines Jahrhunderts von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in das Kommende hinein. Grundlage bilden zunächst biographische und autobiographische Bezüge und Begegnungen, die durch Annotationen ergänzt und entfaltet werden. Dabei gehören zu den ursprünglich konsultierten und diskutierten Werken u.a. Jean Amery´s Jenseits von Schuld und Sühne, Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands, Romane von Greta Weil, Chava Rosenfarb´s Tree of Live, Dara Horn`s People love dead Jews, kritische Texte von Jack Zipes und Peter Hacks Maßgaben der Kunst. Jiddische Märchen und Dramen wirken auf den Prozess ebenso inspirierend wie es die Kollaboration zwischen Walter Benjamin und Asja Lacis getan hat. Die Zeugenschaften überlebender Angehöriger stehen selbstverständlich an wichtiger Stelle unserer Auseinandersetzung, bilden thematische Ausgangs- und Orientierungspunkte. Des weiteren bilden aktuelle Ereignisse und Debatten markante Zeitstempel innerhalb der Iterationen. Mit den Mitteln von Kunst und Theorie bemüht sich das Projekt Chanukah Form zu schaffen, die kritische Aufklärung sowie universalistische Werte nicht vergisst und wo nötig dem Bestehenden entgegenhält.
Initiatoren des Projektes sind zunächst Kate Hannah Weinrieb (Theatermacherin & Pädagogin) und Sebastian Weise (Veranstalter & Kulturarbeiter). Beide lernten sich 2004 an der internationalen Theaterschule von Philippe Gaulier in Paris kennen. Trotz ihres Aufwachsens in sehr unterschiedlichen Verhältnissen und Systemen fanden sie schnell zu einer besonderen Freundschaft, die durch Interesse und Respekt geprägt war. Die Geschichte des Photos Ihrer Großmutter sowie die Geschichte seines Großvaters, der mit dem Vermerk `Rückkehr unerwünscht´ in das KZ Mauthausen deportiert und dort 1945 befreit wurde, ließen bald Verbindungen ahnen, die gemeinsam reflektiert werden wollten. 18 Jahre nach der ersten Beschreibung betrachteten sie schließlich das Photo zum ersten Mal gemeinsam. Mit Chanukah wollen sie die daraus folgende Auseinandersetzung in Form bringen. Dabei werden weitere lokale und internationale Künstler:innen und Gestalter:innen eingebunden.
Das Projekt Chanukah ist aufgrund seines biographischen Anteils innerhalb der Geschichte und seiner Begegnungen sowohl ein lokales als auch internationales Projekt. Mit seinen Iterationen möchte es auch die zeitliche Tendenz zum Fragmentarischen überwinden helfen und jenen Mut, Ausdauer und Anspruch fördern, die ein komplexeres Stück und damit eine komplexere Auffassung von Welt unserer Meinung nach heutzutage verlangt.
Die erste Iteration Chanukah I – Ein Prologue wurde ursprünglich am 07. und 08. Dezember 2023 im freiLand Potsdam dem Publikum präsentiert, in der ersten und zweiten Chanukah-Nacht, und damit genau 19 Jahre nach der ersten Unterhaltung über das Photo.